Nur die Schwerkraft und die Geländetopografie hat früher bestimmt, wie mein Wasser durch die Landschaft geflossen ist. Dabei bildete ich Kurven mit Prallhängen außen und flachen Kiesbänken innen aus. Bäume und Büsche, die durch Ausspülung der Prallhänge ins Wasser stürzten, blieben dort liegen oder wurden weiter gespült, je nach Wasserstand. Meine Strömung transportierte ständig unterschiedlich viel Geröll, Kies und Sand flussabwärts, je nach Wassermenge und Gefälle. In den Prallhängen nisteten Höhlenbrüter wie der Eisvogel und im wasserdurchfluteten Lückensystem von Geröll und Kies lebten Insektenlarven, Flohkrebse, Schnecken und kleine Fische – Nahrungsgrundlage für eine sehr lange Nahrungskette an deren Ende der Mensch stand. Die ständige Umlagerung dieses Geschiebes sorgte für eine Selbstreinigung des Flussbettes, wodurch die Lebensgrundlage für diese Kleinlebewesen immer in einem stabil guten Zustand war. Viele Fischarten benötigen zur Fortpflanzung diese sauberen Kiesbetten und die Möglichkeit, in mir lange Strecken zu wandern. Dies taten grundsätzlich alle Fische, einige von ihnen wanderten sogar bis ins Meer oder von dort zurück in meinen Oberlauf, wo die Wasserqualität und die Flussstuktur für ihre Fortpflanzung optimal war. Die Menge und Diversität der in mir lebenden Wesen war unvorstellbar groß.
Mit der einsetzenden Industrialisierung habt ihr mir eure chemischen und biologischen Abwässer zugemutet, ihr habt Stauanlagen gebaut, um mit Wasserrädern eure Mühlen und andere Anlagen anzutreiben und ihr habt mir meine Kurven genommen, um eure Ackerflächen zu vergrößern. Ihr habt auch geglaubt, dass Hochwasser durch eine gerade Fließrinne schneller abfließen, als durch einen kurvigen Fluß.
Heute ist meine Wasserqualität wieder viel besser geworden, so dass wieder viele Tiere zurückgekommen sind – meist durch die ehrenamtliche Arbeit der Anlger unterstützt. Allerdings habt ihr die Stauanlagen weiter ausgebaut, um die Wasserkraft effektiver zur Stromgewinnung mittels Turbinen zu nutzen und die Landwirtschaft ist aufgrund des Kosten- und Preisdruckes ständig intensiviert worden, so dass ich stark unter Nährstoff- und Pestizideintrag zu leiden habe. Die Umstellung von Milchviehhaltung auf Ackerprodukte führt dazu, dass bei jedem Regen Unmengen von Feinsediment von euren Äckern in mein Wasser gespült wird und das Kieslückensystem verschließt. Dadurch können sich die meisten Kieslaicher nicht mehr fortpflanzen. Sie schlagen zwar noch Laichgruben in den Kies und legen ihre Eier ab, aber nach dem nächsten Regen setzen sich die Lücken mit Sediment zu und die Eier bekommen keinen Sauerstoff mehr. Die Angler müssen so zum Beispiel die Forellen in Bruthäusern aufziehen und dann in mein Wasser setzen, sonst hätte ich keine mehr. Das Gleiche gilt u.a. für die stark gefährdete Äsche und meerwandernden Lachse und Meerforellen.
Zu den ebenfalls sehr stark gefährdeten Fischen gehört der Aal. Er lebt über 10 Jahre in mir und wird dann geschlechtsreif. Er beginnt nun eine unglaubliche Reise den Fluss hinab in die Nordsee, überquert den Atlantik und laicht vor Florida in der Sargassosee ab. Von dort schwimmt seine Brut mit Hilfe des Golfstromes zurück und die kleinen Aale schwimmen in mir wieder flussaufwärts. Wenn die Elterntiere ihre Reise flussabwärts beginnen, müssen sie allerdings viele Stauwerke überwinden. Sie schwimmen immer mit der stärksten Strömung, um Kraft zu sparen. Umleitende Gerinne wie Fischtreppen oder Fischwege finden sie gar nicht, sie landen direkt vor den Rechen der Wasserkraftwerke. Wenn diese Rechen so eng sind, dass die Aale nicht durchpassen, werden sie durch den Wasserdruck an den Rechen gepresst und dann mit den automatischen Rechenreinigern in einen Abfallbehälter transportiert. Wenn der Rechen offen genug ist, werden die Aale durch die Turbine geleitet und dort verletzt. Die toten Fische bleiben im Unterwasser liegen und verrotten. Ihr könnt sie nicht sehen, aber mir ist dabei zum Kotzen übel. Warum macht ihr das? Ihr betreibt in Deutschland fast 8000 Wasserkraftwerke und produziert damit weniger als 4 % des in Deutschland erzeugten Stromes. Noch schlimmer, über 7400 dieser Anlagen zählen zu den Kleinwasserkraftanlagen die zusammen weniger als 0,5% des Stromes liefern. Ihr zerstört mit 7400 Stauanlagen die meisten meiner Brüder und Schwestern, um damit Strom zu erzeugen, der eure Leistungsmesser nicht mal zucken lässt, wenn ihr alle abschaltet?
Jede Staustufe stoppt den Geschiebetranport. Die Selbstreinigungskraft wird mir damit genommen und mein Gewässergrund wird dadurch immer fester, fast betoniert durch die vielen Feinsedimente, die die Kieslücken verschließen. Schlimmer noch: in den Staustufen sammelt sich organischer Abfall, der bei der Zersetzung viel Sauerstoff verbraucht. Da ich nicht immer so viel Sauerstoff nachliefern kann, bilden sich Faulschlämme, die Methan freisetzen. Methan ist ein viel stärkeres klimaschädliches Gas, als CO2. Strom aus Kleinwasserkraftwerken ist nicht grün und nicht umweltfreundlich, er ist ein Verbrechen an mir und der gesamten Natur. Die Umsetzung der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie und der Europäischen Diversitätsstrategie wird damit konterkariert. Ihr verstoßt gegen europäisches Recht und subventioniert das mit dem EEG (Erneuerbare Energieen Gesetz) aus den Taschen eurer Steuerzahler. Wie dreist und dumm ihr seid!
Gebt mir endlich wieder mehr Platz mich auszubreiten, baut die Fließhindernisse ab und haltet mit eurer Landwirtschaft Abstand mit genügend breiten Grünstreifen als Pufferzonen. Ich bin nicht dafür da, für euch Abwässer zu transportieren und Strom zu erzeugen, meine Aufgabe ist es, Lebensräume für Pflanzen, Tiere und letztlich auch für euch Menschen bereitzustellen.
ASV Vorsitzender Holger Wegener zur Hauptversammlung 2022